DIE GESCHICHTE DES STUDIUMS VON ALBRECHT DÜRERS GRAPHISCHEM NACHLASS
G. KISLYKH
Heute ist das Schaffen von Albrecht Dürer ausführlich erforscht und bekannt. Dem malerischen, graphischen und theoretischen Nachlass des Künstlers sind Dutzende Bücher und Hunderte Artikel gewidmet. Unter ihnen nehmen jene Arbeiten einen wichtigen Platz ein, die mit der Tätigkeit Dürers als Druckgraphiker verbunden sind.
Die Aneignung des graphischen Nachlasses des Meisters begann im 19. Jahrhundert mit der Systematisierung und Katalogisierung seiner Druckgraphiken. A. Bartsch hat im Jahre 1808 als erster einen vollständigen Katalog der Drucke Dürers publiziert, der eine thematische Übersicht der Werke des Künstlers gab; dieser Katalog behielt bis in unsere Tage seine Bedeutung. Nach ihm versuchte der englische Kenner und Liebhaber von Druckgraphik W. J. Ottley in seinem 1818 erschienenen Buch, erstmals die Abfolge der Entstehung der Dürerschen Druckgraphik zu bestimmen. Die nächste Etappe der Erforschung bestand in einem gründlicheren Studium der Drucke des Meisters, ihrer Systematisierung und Bestimmung der Kopien. Das hat zuerst J. Heller in seiner Monographie 1827 getan, in der eine bis heute nicht veraltete Liste von Dürers Kopisten publiziert ist.
Fragen der Kennzeichnung und Datierung wie auch die Bestimmung der originalen Dürer-Drucke sind bis in unsere Tage aktuell geblieben. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erweiterten sich die faktischen Kenntnisse, mit denen die Wissenschaftler ihre Aussagen unterlegten: Außer den Quellen wurden die Aufschriften, der Charakter der Unterschriften und Monogramme auf den Kupferstichen studiert. Ungefähr zur selben Zeit wurde für die Bestimmung der Echtheit des Druckes das Papier, seine Struktur und Wasserzeichen zu einem wichtigen Faktor. B. Hausmann hat als erster in einem Buch, das Drucken und Zeichnungen des Meisters gewidmet ist, eine Tabelle von Wasserzeichen angeführt, die charakteristisch für das Papier sind, auf dem Dürer seine Stiche druckte.
Als Ergebnis des intensiven Studiums von Dürers graphischem Erbe wurden in den 1890-er Jahren in einer Reihe von Ländern Ausstellungen der Arbeiten des Künstlers organisiert (Cambridge 1893; New York 1894). Spezifisches Merkmal der ersten Periode des Studiums des Schaffens dieses Meisters wurde das Sammeln von Material, dessen Systematisierung und die Aufstellung einer Chronologie.
Die nächste Etappe im Studium der Kunst Dürers begann an der Grenze des 19. und 20. Jahrhundert. In erster Linie wurden jetzt Fragen der technischen und künstlerischen Evolution des Meisters, der Verbindung seiner Arbeiten mit den ästhetischen Problemen der Zeit, ihrer Besonderheiten und nationalen Züge in Angriff genommen und ebenso Fragen der wissenschaftlichen, theoretischen und philosophischen Schaffensgrundlagen, des Erscheinens neuer Genres und einer neuen Ikonographie. Die Bedeutung der Drucke im Schaffen Dürers wurde in Verbindung mit seiner Rolle in der Geschichte der europäischen Druckkunst betrachtet.
Gleichzeitig setzte man die Katalogisierung der Dürer-Drucke fort, absolvierte ein detailliertes und ausführliches Studium verschiedener Museumskollektionen und stellte neue Kataloge zusammen. Im Jahr 1932 gab der österreichische Wissenschaftler I. Meder, der sich auf Vorgängerarbeiten und seine eigenen Forschungen stützte, einen kompilierten Katalog der Graphik des Meisters heraus. Dieser erschien sorgfältig und detailliert ausgearbeitet. Aufgenommen waren alle Holzschnitte, Kupferstiche, Radierungen und Kaltnadelradierungen; gesondert wurden Arbeiten von Dürer zu Ausgaben des 15. Jahrhunderts ausgewiesen und ebenso die Arbeiten für Kaiser Maximilian I. Meder erweiterte in bedeutendem Maße Hartmanns Tabelle der Wasserzeichen und fügte ihr Erläuterungen hinzu. Sein Katalog, der nicht nur alle Dürer zugehörenden Druckgraphiken einschloss, sondern auch eine ausführliche Charakteristik einzelner Drucke enthielt, die in verschiedenen Zeiten entstanden waren, wurde zum wichtigsten und in seiner Art einzigen Handbuch für die Arbeit mit Dürers Druckgraphik.
Die fundamentale Bedeutung von Meders Katalog ist bis heute bewahrt geblieben, ungeachtet dessen, dass im Jahr 1954 F.W.G. Hollstein das neueste Bestandsbuch von Dürers Graphiken publizierte. Der Dürer gewidmete Band stellte einen Teil der Arbeit des Autors zur Geschichte der deutschen Graphik 1400–1700 dar. Hollstein stützte sich in vielem auf Meders Katalog. Er übernahm die von diesem vorgenommene Datierung der Drucke, dessen Prinzip des thematischen, aber nicht des chronologischen Aufbaus. Hollstein führte die Namen der Kopisten auf und gab ihm bekannte Orte der Aufbewahrung der Platten an. Als Ergänzung zu Meder führte Hollstein die Wiedergabe aller Dürer-Drucke auf, und wenn ein Stich mehrere Zustände hatte – die Illustration jedes einzelnen. 1996 edierte W. Straus einen Einzelband (Nr. 10) des illustrierten Katalogs von Bartsch, der vollständig den Drucken Dürers gewidmet ist (TIB.10). Diese Publikation schloss die Wiedergabe aller Dürer-Drucke und ein ausführliches Verzeichnis der Kopisten (leider ist heute schon offensichtlich, dass nicht alle Dürer-Kopisten in diesem Band erfasst sind), die Aufbewahrungsorte der Dürer-Platten, die Wasserzeichen sowie Quellenangaben zu vorangegangenen Nachschlagewerken ein.
In der russischen Kunstwissenschaft kam das Interesse am Schaffen Dürers zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Die ersten Arbeiten von A. Mironow trugen allgemeinen Charakter. Aber schon in den 1910-er Jahren untersuchte D. Nedowitsch in einem Buch, das Dürers „Apokalypse" gewidmet ist, detailliert die Struktur dieses Zyklus und A. Sidorow wandte sich zur gleichen Zeit in seinen Artikeln umstrittenen Fragen und Problemen des Schaffens des großen Künstlers im Lichte der gesamteuropäischen Forschungen zu.
Im Jahr 1928, anlässlich des 400-sten Todestages von Albrecht Dürer, wurde in Moskau eine Ausstellung seiner Graphiken organisiert und ein Katalog, zusammengestellt von A. Sidorow, herausgegeben. Das war der erste wissenschaftliche Katalog der Drucke Dürers in russischer Sprache. Er schloss Blätter der Sammlung des Moskauer Museums der Schönen Künste (heute: Staatliches Puschkin-Museum der bildenden Künste) ein. A. Sidorow gab erstmalig eine Einschätzung der Moskauer Sammlung der Dürer-Drucke und vermerkte dabei die Qualität und das Alter aller Drucke, wobei er sich hauptsächlich nach den Wasserzeichen der Papiere richtete.
Zwei Jahre später erschien ein Aufsatz desselben Autors, der einer der strittigsten Fragen im Schaffen Dürers gewidmet war: der Datierung und Chronologie seiner frühen Kupferstiche. Es ist bekannt, dass der Meister seine Kupferstiche seit 1503 zu datieren begann. Bis dahin war nur ein Blatt – „Vier Hexen" – mit Jahr vermerkt, andere Stiche zu verschiedenen mythologischen, allegorischen und religiösen Sujets waren nicht nur undatiert, sondern erwiesen sich oft auch als nicht gezeichnet. Eben deshalb wurden diese Drucke die Ursache für Meinungsverschiedenheiten in den Arbeiten vieler Wissenschaftler. A. Sidorow, der den Standpunkt der wichtigsten Forscher ausführlich dargelegt hat, stellte seine Chronologie anhand der Analyse der stilistischen und technischen Entwicklung des Meisters dar. Außer Sidorow stellten die sowjetischen Kunstwissenschaftler Z. Nesselschtraus (in einer Dürer-Monographie und der betreuten Edition von Tagebüchern, Briefen und Traktaten des Künstlers) und M. Libman (in einem Buch zu Dürer und in seiner der deutschen Kunst der Dürerzeit gewidmeten Habilarbeit) in ihren Aufsätzen Fragen allgemeiner und problemorientierter Art. 1971, zum 500-sten Geburtstag Albrecht Dürers, wurde im Puschkin-Museum aus dessen eigener Sammlung eine große Ausstellung der Drucke des Künstlers organisiert. Zur Ausstellung erschien ein Katalog, dessen Autorin G. Kislych ist. Bis heute ist er die jüngste und vollständigste Erforschung der Drucke des Künstlers, die im Staatlichen Moskauer Puschkin-Museum aufbewahrt sind; sie lag dieser Site zugrunde.