Unter „Passion“ wurden gewöhnlich jene physischen und seelischen Leiden verstanden, die Jesus Christus in den letzten Tagen seines irdischen Lebens durchgemacht hat. Dieses Thema war im Deutschland des 15. und 16. Jahrhunderts besonders populär. Die Kirche nutzte die bildende Kunst, besonders die Graphik, dafür, um den breiten, oft des Lesens und Schreibens unkundigen Volksmassen von den letzten Tagen im Leben Christi zu erzählen. Schon im Mittelalter war eine Ikonographie aller Sujets ausgearbeitet, die leicht erkennbar war. Albrecht Dürer führte, als er sich dem „Passions“-Thema widmete, in die traditionelle Ikonographie seine Ergänzungen ein und vergrößerte manchmal die Zahl der Sujets.
Die Folge „Die kleine Passion“, die der Künstler nach seiner zweiten Italienreise (1505–1507) begann, besteht aus 36 Holzschnitten und einem Titelblatt. Es ist die höchst ausführliche Auslegung der Geschichte vom Märtyrer- und Erlösertod Christi, und der Künstler begann sie mit der Szene des „Sündenfalls“. Der Zyklus schloss neben der eigentlichen „Passion“ eine Reihe von Sujets aus dem Ersten Buch Mose (Genesis) ein, die mit dem erlösenden Opfer des Heilands verbunden sind, und aus den Legenden über die Jugend von Christus.
Die erste Ausgabe erschien 1511 mit lateinischem Text auf der Rückseite; 1612 in Venedig mit italienischem rückseitigem Text. Die „Kleine Passion“ erfreute sich in den verschiedenen Ländern Europas einer großen Popularität und wurde sowohl als ganzer Zyklus als auch in einzelnen Blättern bis zum 20. Jahrhundert herausgegeben.
Alle Druckstöcke, außer dem Titelblatt, sind im Britischen Museum in London aufbewahrt.
Die Kollektion der Graphiken dieses Zyklus im GMII-„Puschkin“ datiert hauptsächlich aus der zweiten Hälfte des 16. Jhs. und dem 17. Jahrhundert, mit Ausnahme von Blatt 11, 30 und 36, die aus der ersten Ausgabe von 1511 stammen.