DIE MELANCHOLIE
Die dritte der „Meistergraphiken". Dürers schwierigstes und vollkommenstes Werk. In ihm verwirklichte der Künstler das Bestreben des Menschen, die Geheimnisse des Kosmos und die quälenden Zweifel und Enttäuschungen zu ergründen, die ihn auf diesem Weg erwarten.
Seit fünf Jahrhunderten werden Versuche unternommen, das Sujet und die Emblematik der Graphik zu dechiffrieren. Am verbreitetsten bleibt die Deutung des Sujets als Darstellung einer der Arten des menschlichen Temperaments, und zwar des melancholischen. Für diese Art des Temperaments entwickelte man immer das meiste Interesse, besonders im humanistischen Milieu der Dürer-Epoche.
Die Melancholie (einziges Blatt im Schaffen des Künstlers, dessen Titel er in die Komposition hinein nahm) wurde im Volk als das gefährlichste der vier Temperamente betrachtet, das zu schwerer Erkrankung und zum Wahnsinn führt. Ende des 15. Jahrhunderts gab der Florentiner Marsilio Ficino eine Erklärung des melancholischen Temperaments als Eigenschaft aller hervorragenden Menschen, von „vollkommen besessenen" Menschen. Er schuf den Begriff der „melancholischen Besessenheit" und verführte sie aus der Kategorie der Typen von nervöser Konstitution in einen erhabenen Zustand. Dürer kannte zweifellos Ficinos Theorie und stellte seine kraftvolle Heldin eben in diesem Zustand dar. Die Dürersche Allegorie hat auch eine andere Bedeutung. Die Gegenstände, die um die Frau herum verstreut liegen, zeugen von wissenschaftlicher und künstlerischer Beschäftigung und symbolisieren die Kühnheit des schöpferischen Genius.